Fischland-Lügen - Leseprobe

Eine Treppenlänge später stand Kassandra reglos neben Kay im Obergeschoss. Die Halogenstrahler in der Decke waren gedimmt und verliehen den in sattem Terracotta gestrichenen Wänden zusätzliche Wärme. Von der Feier drangen gedämpfte Geräusche herauf, aber hinter den sechs Türen, die von einem Flur abgingen, war alles still. Vielleicht lag in den Räumen genauso dicker Teppich wie unter ihren Füßen, dennoch war Kassandra überzeugt, dass niemand sich hier oben aufhielt. Es fühlte sich so an, ohne dass sie genauer bestimmen konnte, warum.
»Wohin zuerst?«, flüsterte sie.
»Ich habe keinen Gebäudeplan, also der Reihe nach«, gab Kay ebenso leise zurück.
Nach Miriams Zimmer, das relativ unpersönlich wirkte, als wolle sie bei ihren Eltern möglichst wenig von sich preisgeben, und einem Bad, in dem man Walzer tanzen konnte, waren sie am Ziel. Kay leuchtete mit seiner Taschenlampe über Wände, die mit Regalen gepflastert waren, weiter zu einer Verbindungtür zum nächsten Raum und schließlich zu einem über Eck stehenden Schreibtisch, auf dem ein Laptop und ein Drucker standen und diverse Akten und Papierstapel lagen.

»Lehn die Tür so dicht an, wie es geht«, sagte er, während er nachsah, was sich hinter der zweiten Tür verbarg. »Schlafzimmer«, stellte er fest, schloss sie wieder und ging zum Schreibtisch.
Kassandra positionierte sich vor dem schmalen Spalt der Tür zum Flur. »Ich kann bis zum Treppenaufgang alles überblicken und sage Bescheid, sobald ich was sehe oder höre. Viel Erfolg.«
»Danke«, murmelte Kay.
Kurz schaute sie über ihre Schulter. Kay hatte das Laptop aufgeklappt, das Licht des Displays ließ sein Gesicht geisterhaft erscheinen. Sie drehte sich wieder um, konzentrierte sich auf den Flur und hörte hinter sich, wie Kay auf Clasens Schreibtischstuhl Platz nahm. Das nächste Geräusch klang, als würde er einen USB-Stick ins Laptop stecken. Eine Weile gurgelte es leise, dann begann Kay, abwechselnd zu tippen und mit der Maus zu klicken.
Auf dem Flur tat sich nichts, dennoch wurde Kassandra nervös. Kay arbeitete bereits seit einer halben Stunde am Notebook. Für eine Sekunde ließ sie den Flur aus den Augen, sah jedoch nur seine dunklen Haare über dem Display. »Kommst du voran?«, wisperte sie.
»Wie man's nimmt«, antwortete Kay. »Ich habe Zugriff auf sämtliche Programme und Dateien und lasse sie durchsuchen, aber ich finde nichts von Bedeutung.«
»Wenn hier nicht ist, was du suchst, kannst du die Villa wenigstens abhaken«, sagte Kassandra.

»Sieht so aus, aber ich werde nichts abbrechen, bevor meine Software mit allem durch ist.«
Wieder blieb es still zwischen ihnen. Kassandra dachte an Clasen und wie er sie vorhin wütend angeblitzt hatte, als sie ihn beschuldigt hatte, sich Dominiks entledigt zu haben. Ihr war schon mulmig geworden, doch dann hatte sie noch etwas in seinen Augen gelesen. Überlegenheit. Als ob er nichts fürchtete. Das konnte daran gelegen haben, dass er – zumindest was Dominik betraf – tatsächlich nichts zu fürchten hatte. Aber auch daran, dass er sich nach allen Seiten absicherte. Was er ganz bestimmt auch mit den höchst brisanten Daten tat, hinter denen Kay her war.
 »Wenn ich Clasen wäre«, sagte sie und drehte sich nun doch wieder von der Tür weg zu Kay hin, »würde ich sensible Unterlagen nicht auf ein Laptop abspeichern, das von extern gehackt werden könnte.«
Kay sah hoch. »Sondern in althergebrachten Aktenordnern?« Er ließ seinen Blick über die Regale schweifen. »Da ist was dran.« Er stand auf, um mit Hilfe seiner Taschenlampe die Beschriftungen zu lesen. »Die durchzuackern, würde Tage in Anspruch nehmen.«
Seine Taschenlampe wanderte weiter, doch erst, als ihr Strahl das nächste Regal abtastete, wurde Kassandra bewusst, dass sie gerade etwas gesehen hatte.
»Geh noch mal zurück, da unten, weiter links«, dirigierte sie. »Ist das eine Laptoptasche?«
Kay zog sie aus dem Regal und gleich darauf ein Laptop hervor. »Was für ein Uraltmodell«, murmelte er und wollte es wieder zurückschieben. Da hielt er inne.
Kassandras und sein Blick trafen sich. »Ein Notebook«, sagte sie, und er nickte.
 »Ein Notizbuch im eigentlichen Sinne, eins, das nicht wie selbstverständlich am Netz hängt.« Er klappte es auf. Es ließ sich mit Akkubetrieb nicht hochfahren, sodass Kay das andere Laptop, das nach wie vor von seiner Software durchsucht wurde, vom Strom nahm und das Notebook anschloss.
Ein Geräusch auf dem Flur alarmierte Kassandra. Blitzschnell wandte sie sich wieder dem Türspalt zu und sah gerade noch, wie eine Frauengestalt das Bad gegenüber betrat. Sie bedeutete Kay, keinen Laut von sich zu geben, und erschrak von neuem, als dennoch vom Schreibtisch die Windows-Willkommens-Melodie erklang, die Kay nicht mehr hatte aufhalten können. Ihr brach der Schweiß aus, aber glücklicherweise öffnete sich drüben nicht sofort die Tür. Und warum auch? Es war ja nur ihr so laut vorgekommen. Sie hörte, wie Kay erneut zu tippen begann, gleichzeitig kam Astrid aus dem Bad und ging wieder die Treppe hinunter, ohne einen Blick in Richtung Arbeitszimmer zu verschwenden.
Langsam normalisierte sich Kassandras Puls, Kays leise Tipp- und Klickgeräusche hatten eine beruhigende Wirkung auf sie. Als sie plötzlich stoppten, kam es ihr unnatürlich still vor.
»Hast du was gefunden?«, wisperte sie.
Kay antwortete nicht.
Obwohl sie sich geschworen hatte, den Flur nicht noch mal aus den Augen zu lassen, drehte sie sich wieder zu ihm um. Er hatte den USB-Stick in das alte Notebook gesteckt, das nun neben dem neuen stand. Kassandra konnte nur seine rechte Gesichtshälfte sehen, aber sie erkannte, wie ungläubig er auf das Display starrte. Dann kam plötzlich Leben in ihn. Er begann zu tippen, so schnell, wie sie Paul noch niemals hatte schreiben sehen, und Paul war schnell. Dabei murmelte er etwas vor sich hin, das Kassandra nicht verstand, aber offensichtlich Ausdruck seiner Fassungslosigkeit war. Schließlich zog er konzentriert – oder wütend? – die Brauen zusammen, hackte ein letztes Mal auf die Tastatur ein und ließ sich auf dem Schreibtischstuhl zurückfallen. An der Seite des Notebooks blinkte ab und zu das kleine rote Lämpchen des USB-Sticks auf – ein Zeichen, dass der Stick arbeitete und wahrscheinlich Daten vom Notebook zog. Obwohl Kay nun nur noch warten konnte, nahm er nicht den Blick vom Display.
»Was hast du gefunden?«, formulierte Kassandra ihre Frage anders.
Kay wischte sich mit der Rechten über die Augen, wie um sich zu vergewissern, dass das, was er vor sich sah, wirklich da war.

 

 

Neugierig geworden? Dann: