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Fremd in der Heimat - Erinnerungen

Inmitten des Trubels. Um mich herum lauter Touristen, lachend, schwatzend, Handykameras auf Fachwerk und Weserrenaissance gerichtet. Und ich mitten drin. Gehöre ich dazu?


Ich lasse mich treiben vom Strom der Menschen und komme zu keiner Antwort. Vor zwei Jahren hätte ich eine gehabt: Touristin? Ich? Absurd! Ich bin Hamelenserin! Das kann man nicht werden, dafür muss man hier geboren sein!


Natürlich wäre mir klar gewesen, dass ich übertreibe. Ja, ich bin in Hameln geboren. Aber ich war noch keine drei Jahre alt, als mein Leben hier schon wieder endete. Aufgewachsen bin ich Hannover. Das hat mich geprägt: Kindheit, Jugendzeit, eigene Wohnung, Ehe, Jahrzehnte im Job. Ich bin eine Großstadtpflanze, ohne dass ich je darüber nachgedacht oder es in Frage gestellt hätte. Trotz meiner Liebe zu Hameln. Da waren wir oft. Großeltern, Verwandte, Freunde besuchen. Und ich später meine Eltern, nachdem es sie zurück in die Heimat gezogen hatte. Hameln war immer eine Art zweites Zuhause. Ich habe mich nie fremd gefühlt.

 

Bis jetzt.

 

Jetzt fühle ich mich plötzlich mehr den Touristen verbunden. Menschen, die die Reisebusse heute Vormittag ausgespuckt haben und die sie heute Abend wieder einsammeln und zum nächsten Ziel bringen. Ich müsste doch eigentlich in den Zug steigen und zurück nach Hause fahren.

 

Ich bin am Hochzeitshaus angekommen.

 

Es sieht aus wie vom Zuckerbäcker entworfen, gebaut aus Sandstein mit verschnörkelten Giebeln, Butzenfenstern und natürlich dem Glockenspiel. 37 Glocken sind es, große und kleine. Sie untermalen mit dem Rattenfängerlied das Rattenfänger-Figurenspiel, wenn sich dreimal am Tag die Flügel des bronzenen Tores öffnen.

 

Und einmal am Tag spielen sie das Weserlied.

 

Meine Mutter erwähnte das Weserlied bei einem der langen Telefonate, die wir täglich führten, wenn ich nicht in Hameln war, um sie zu besuchen.

„Ach, das mit dem großen Bogen“, sagte ich, suchte es auf YouTube und hielt mein Handy an den Laptop-Lautsprecher, damit sie mithören konnte.

„Nein, das doch nicht. Das andere, das richtige“, sagte sie.

Bald hatte ich gefunden, was sie meinte. Ich bin kein großer Freund alten deutschen Liedguts. Aber An der Weser ging mir ans Herz. Tut es immer noch. Man muss es hören, in der mal sanften, mal tosenden Musik versinken, die den Fluss selbst und den Fluss des Lebens gleichermaßen symbolisiert. Erst dann entfaltet es seine ganze Wirkung. Und dann noch der Text. Beides zusammen treibt mir die Tränen in die Augen. Es fängt so leicht an, so voller Hoffnung auf die Liebe. Dann endet es in Tränen, denn was bleibt, ist nur die Erinnerung an schöne Träume, die nicht wiederkehren.

 

Franz Ferdinand, Freiherr von Dingelstedt: Schriebt Ihr ein schnulziges Liebeslied? Oder einen Rückblick auf das Leben, wenn es sich dem Ende neigt? Noch so eine Frage, die ich nicht beantworten kann.

 

Es wird ruhiger um mich herum, als die Glocken erklingen, noch stiller, als die bronzenen Türen sich öffnen und die Pfeife ertönt. Es ist Äonen her, dass ich mir das letzte Mal das Rattenfängerspiel angesehen habe. Wieso hätte ich das auch tun sollen? Das ist nur was für Touristen.


Ich schaue zu, wie der Rattenfänger zuerst die Ratten und dann - aus Rache, dafür nicht entlohnt worden zu sein - die Kinder aus der Stadt führt, schaue zu, wie das blinde Mädchen und der am Krückstock gehende Junge als Einzige zurückbleiben. Sie wissen nicht, dass sie darüber froh sein können, jedenfalls der Legende nach. Begleitet vom traurigen Flötenspiel treten sie den Rückweg in die Stadt an.

 

Ich bin immer noch da, als sich die bronzenen Flügeltüren längst geschlossen haben, und weiß nicht, wohin mit mir. Die Menschenmenge hat sich zerstreut in die kopfsteingepflasterten Gassen der Altstadt mit ihren schiefen, gedrungenen Fachwerkhäusern - oder zur Weser hin. Man müsste sich nur umdrehen, durch die Zehnthofstraße, über den Zebrastreifen bei der Pfortmühle, schon stünde man am Ufer. Aber ich bin mir ziemlich sicher, kein Tourist wird diesen Weg nehmen. Ich schon.


Die Zehnthofstraße ist dunkel, sie liegt im Schatten eines viel zu gigantischen Einkaufszentrums mit mittlerweile dreißig Prozent Leerstand. Früher muss es hier hübsch gewesen sein. Ich weiß das von uralten Fotos und Postkarten, auf denen markante Häuser mit Restaurationen und Villen zu sehen sind, die zuerst weichen mussten für einen Kaufhausbau, eine Sparkasse und einen Busbahnhof und schließlich dem Einkaufszentrum mit mittlerweile … na ja. Von der ursprünglichen Zehnthofstraße ist kaum noch etwas übrig. Vor einem der Häuser bleibe ich dennoch regelmäßig stehen. Nicht dass es besonders schön wäre, im Gegenteil, die graurot verklinkerte Front und die Fenster wirken abweisend, und auf dem Balkon sieht man nie jemanden. Kein Wunder. Man guckt von da nur auf die Hülle des Einkaufszentrums. Das einzig Außergewöhnliche ist, dass dieses Haus zur Hälfte schräg in der Straße steht. Das war schon immer so, auch wenn es früher keinen Balkon hatte und hell verputzt war. Das weiß ich ausnahmsweise nicht von alten Bildern. Ich erinnere mich, dass ich als Kind ab und zu mit meinem Vater hier war. Er blieb dann manchmal stehen wie ich heute, in Betrachtung versunken. Ich wünschte, ich hätte ihn gefragt, was er dachte, wenn er vor dem Haus stand, in dem er gelebt hatte, als er jung war. Ich wünschte, ich hätte ihm eine Millionen Fragen gestellt, die ich nicht mehr stellen kann. Nie mehr.

 

Am Ende gehe ich doch nicht zur Weser, sondern zurück zum Hochzeitshaus, die Osterstraße hinunter und durch die Unterführung. Auf der Deisterallee gehe ich am Sanitätshaus vorbei und denke wie jedes Mal an den Tag, an dem mein Vater hier mühsam aus dem Auto des Nachbarn stieg, der ihn hergefahren hatte, um seinen Rollator abzuholen. Nie vergesse ich seine ersten Worte: „Die Tage sind gezählt.“ Ich lachte das weg, weil ich es weder hören noch glauben wollte. Einige Wochen später zählte er nicht mehr.


Bevor ich in den kleinen Weg an der Hamel entlang biege, schaue ich an dem seelenlosen Neubau hoch, an dessen Stelle früher eine Kaserne stand. Obwohl ich sie als Kind gesehen haben muss, habe ich keine Erinnerung daran. Die Erinnerung an die Arztpraxis meiner Eltern im ersten Stock dagegen ist lebendig genug.


Dann bin ich zu Hause. Es klingt fremd und fühlt sich fremd an. Ich bin keine Touristin, jetzt weniger als irgendwann in den letzten vierundfünfzig Jahren. Jetzt lebe ich in meiner alten Heimat. Alte Heimat. So habe ich Hameln früher genannt, so habe ich es empfunden. Bis ich tatsächlich herzog. Ich schließe die Wohnungstür auf, alles riecht neu, kein Zimmer ist fertig eingerichtet. Kisten warten aufs Aufspacken, Bilder aufs Aufhängen, Regale und Schränke darauf, eingeräumt zu werden. Die Wohnung muss mit Leben gefüllt und ein Zuhause werden. Hoffentlich.


Ich trete auf den Balkon, mein Blick gleitet über den Garten, der jetzt im Winter nicht mehr die grüne Oase ist, als die er sich bei der Wohnungsbesichtigung präsentierte. Trotzdem hat er was. Der Rasen, die roten Beeren an dem Busch da unten und der Lebensbaum sind mit leichtem Puderzuckerschnee bestäubt. Schließlich richtet sich mein Blick auf das große Backsteingebäude gegenüber. Die Schule, die meine Mutter besucht hat. Ich frage mich, hinter welchem Fenster wohl ihr Klassenzimmer war. Ich habe sie nie gefragt. Ein kleines Stück entfernt liegt die Polizeiinspektion. Das Gebäude wurde ursprünglich als Arbeitsamt gebaut, und in den fünfziger Jahren hat meine Mutter dort als Aushilfe gearbeitet. Hinter welchem Fenster wohl? Ich habe sie auch das nie gefragt.

 

Hameln ist voll von solchen Orten, und mein Herz ist voll von Fragen. Manche konnte ich nicht vorhersehen. An andere habe ich gedacht - an einige davon zu spät, an einige früh genug, aber ohne den Mut, sie zu stellen.

 

Sind diese Fragen noch von Belang? Ich muss mein eigenes Leben leben, nicht das meiner Eltern „nachleben“. Die Vergangenheit ist längst vergangen und kann nicht wieder heraufbeschworen werden, so gern ich das täte. Ich weiß das, ich wusste es von Anfang an. Und doch. Und doch war einer der Gründe, warum mir so viel daran lag, nach Hameln zu ziehen, das Gefühl, meiner Mutter und meinem Vater hier näher zu sein. Es wird sich zeigen, ob das so ist. Ob ich dabei Freude empfinde. Oder Traurigkeit, weil ich trotz der Nähe so unendlich weit von ihnen entfernt bin. Weil ich nicht meine Kinderhand in die meiner Mutter gleiten lassen kann. Weil ich nicht auf den Schultern meines Vaters über den Flur reiten und jauchzen kann. Aber vielleicht kann ich stattdessen vor dem alten „Monopol“ stehen und mir den Tanzsaal vorstellen, in dem meine Eltern sich bei der Tanzschule von Friedrich Schlüter kennenlernten. Ich könnte mich erinnern, wie meine Mutter mir von den durchtanzten Schuhen meines Vaters erzählte. Die er für den Abschlussball mit schwarzer Schuhcreme so auf Hochglanz poliert hatte, dass sie aussahen wie Lackschuhe und genau diesen einen Abend hielten.


Hameln ist auch voll von solchen Orten. Orten, die keine Fragen hervorrufen, sondern Erinnerungen. Auch wenn es nur Erinnerungen an Erzählungen sind, die meist damit begannen, dass ich mich als Kind an meine Mutter gekuschelt und sie gebeten habe: „Erzähl was von früher.“


Ich wünschte, ich hätte alles aufgeschrieben, denn sicher habe ich vieles vergessen. Ich kann nicht mehr fragen. Aber ich kann das, was ich noch weiß, jetzt aufschreiben und mich dabei meinen Eltern ganz nah fühlen. So, wie es gerade eben war – beim alten Schlüter, der wert legte auf ordentlichen Paartanz und das „Kakaobohnentreten“, wie es nach dem Krieg aus Amerika so langsam herüberschwappte, gar nicht schätzte. Die Erinnerung daran entlockt mir gerade ein (heutzutage politisch höchst unkorrektes) kleines Kichern – dasselbe wie als Kind. Als ich das Umhülltsein von der Liebe meiner Eltern für völlig selbstverständlich hielt und mir sicher war, dass es für immer so bliebe.