Fischland-Rache - Leseprobe

Da es zwar frisch war, die Sonnenstrahlen aber doch genug wärmten, setzten sie sich auf dem Rückweg auf eins der Boote, die sommers wie winters umgedreht in den Dünen lagen. Von hier hatte man einen grandiosen Blick über den langen Strand, bis zur Seebrücke auf der einen und zum Hohen Ufer und den Buhnenreihen auf der anderen Seite.
Es war ruhig war um sie herum, und Kassandra hörte sofort, dass jemand hinter ihnen vom Strandübergang aus auf die Boote zukam. Sie drehte sich um, doch der Mann beachtete sie gar nicht. Stattdessen hielt er auf Paul zu, der, obwohl er nach wie vor auf die See schaute, genauso erstarrte wie am Abend zuvor im »FischLänder«.
Bis eben hatte Kassandra nicht gefroren, jetzt wurde ihr seltsamerweise kalt. Dann stand der Mann vor ihnen und sah auf sie herunter.
»Na, Paul, immer noch dein Lieblingsplatz? Manche Dinge ändern sich nie, was?«
Die Erstarrung fiel von Paul ab, als sei sie nie dagewesen, und wie gestern fragte sich Kassandra, ob sie wirklich gesehen hatte, was sie gesehen hatte. Und wenn ja, ob es jemand anders auch wahrgenommen hätte.
»Sascha«, sagte Paul. »Ich würde ja sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen. Aber ich lüge ungern.«
Das schien den Mann zu amüsieren. »Tatsächlich?« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor er zu Kassandra sah, seine Worte aber weiterhin an Paul richtete. »Willst du mich nicht vorstellen? Du tust doch sonst immer das Richtige in jeder Situation. Oder jedenfalls fast immer.«
Paul stand auf, und jetzt war er es, der auf den anderen hinuntersah, der deutlich kleiner war. Auch Kassandra erhob sich.
»Kassandra, mein Bruder Sascha. Sascha - Kassandra«, sagte Paul knapp und beinah so eisig wie die Windböe, die mit einem Mal über sie hinwegfegte. Oder war das nur Einbildung?
Sascha streckte ihr die Hand entgegen und lächelte charmant. »Freut mich.«
Mich nicht, dachte Kassandra instinktiv und musste gleichzeitig die Neuigkeit verdauen, dass Paul einen Bruder hatte. Widerstrebend ergriff sie die dargebotene Hand, während sie mit der anderen nach dem Hühnergott in ihrer Manteltasche tastete und hoffte, dass der wirklich Glück und kein Unglück brachte. Etwas an Pauls Bruder bescherte ihr eine Gänsehaut – obwohl zumindest aufgrund seines Äußeren dazu kein Grund bestand. Sascha mochte zwar einen Kopf kleiner und zwei, drei Jahre älter sein als Paul, aber in das helle Braun seiner Haare hatte sich keine einzige graue Strähne verirrt, und er sah immer noch gut aus. Irgendwann musste er sich mal die Nase gebrochen haben, doch dieser kleine Makel machte ihn auf eine eigenwillige Art sogar attraktiver. Paul dagegen hatte trotz seiner beeindruckenden Größe nie dem gängigen Schönheitsideal entsprochen.
»Was willst du?«, fragte er Sascha nun.
»Ich bin dein Bruder. Was soll ich wollen? Dich wiedersehen. Ist das so erstaunlich?«
»In Anbetracht einiger Tatsachen durchaus«, sagte Paul. Sein Ton war neutral, dennoch hatte Kassandra den Eindruck, dass es ihn alle Kraft kostete, ruhig zu bleiben. Sie wusste nur nicht, ob er am liebsten die Flucht ergriffen oder seinen Bruder in die See gestoßen hätte. Sascha bedachte Paul mit einem undefinierbaren Blick und erwartete anscheinend, dass er weitersprach. Stattdessen wiederholte Paul bloß: »Was willst du?«
»Über alte Zeiten plaudern und über die Zukunft. Meinst du, es wird ein harter Winter?« Diesmal lag keinerlei Belustigung in Saschas Stimme. Kassandra verstand nicht, wovon er da sprach, sie verstand nur, dass er auf etwas anspielte. Unwillkürlich erinnerte sie sich an einen Satz, den Paul einmal zu ihr gesagt hatte: Du weißt gar nichts über mich. Sie hatte nie gefragt, was er damit gemeint hatte, und er selbst hatte das Thema nie wieder angeschnitten.
»Du willst mit mir über alte Zeiten reden? Ich hätte nicht gedacht, dass gerade dir der Sinn danach steht.«
»Lern mich besser kennen.«
»Ich kenne dich gut genug«, sagte Paul, »also schlage ich vor, dass du dahin zurückgehst, wo du hergekommen bist. Wo immer das sein mag.«
»Was bist du so abweisend?«, fragte Sascha, diesmal wieder amüsiert. »Ich dachte bisher, dass Blut dicker ist als Wasser.«
Paul holte tief Luft. »Fahr zur Hölle.«
Da war es wieder. Obwohl Paul ebenso ruhig sprach wie zuvor, lag das in seiner Stimme, was am Abend zuvor in seinen Augen gelegen hatte. Kassandra erkannte, dass es nicht Hass gewesen war, sondern kalte Wut. Außerdem wurde ihr klar, dass Sascha gestern, wenn auch nur kurz, im »FischLänder« gewesen sein musste. Paul hatte ihn gesehen oder vielleicht auch nur geglaubt, ihn gesehen zu haben. Denn wäre er sicher gewesen, wäre der heutige Tag – nach dem zu urteilen, was sich hier gerade abspielte – bestimmt weniger angenehm verlaufen.
»Nein, mein Lieber. So einfach geht das nicht«, erwiderte Sascha unbeeindruckt. »Sollte ich zur Hölle fahren, nehme ich dich mit.«

 

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