Fischland-Feuer - Leseprobe

Mitten in der Nacht schreckte Kassandra aus dem Schlaf. Sie konnte sich nicht erinnern, was sie geträumt hatte – nur dass es von einem durchdringenden Geheul untermalt gewesen war. Das erklang in unverminderter Lautstärke, und jetzt identifizierte sie es als Sirenenalarm. Erschrocken schwang sie die Beine aus dem Bett und entdeckte zugleich Pauls Silhouette am geöffneten Fenster.
»Jonas rannte gerade aus dem Haus«, sagte er und drehte sich zu ihr um. »Die Seefahrtschule brennt.«
Während sie sich hastig ankleideten, hörten sie kurz hintereinander zwei Martinshörner, bald darauf standen sie draußen. Mit einigen anderen Wustrowern liefen sie die Lindenstraße entlang und durch ein kurzes Stück der Parkstraße. Ein Blick die Straße hoch beruhigte Kassandra. Weder die alten Büdnereien noch die Villa des ehemaligen Seefahrtschuldirektors Schütz oder die neueren Ferienhäuser standen in Flammen, sodass dieses Mal glücklicherweise keine Toten oder Verletzten zu befürchten waren - es sei denn, in der Ruine der Seefahrtschule war unbefugterweise jemand gewesen.
Kassandra und Paul blieben an den Bäumen und Büschen, die den Parkplatz vor der Seefahrtschule säumten, stehen und starrten auf das Szenario. Was hier passierte, musste Paul und sehr vielen anderen Wustrowern wie ein unheimliches Déjà-vu vorkommen - Anfang der Neunziger hatte es schon einmal hier gebrannt. Kassandra war vor zwei Jahren in der Ruine gewesen und erinnerte sich an die noch immer geschwärzten Wände, denen sie kaum Aufmerksamkeit hatte zukommen lassen, weil andere Probleme sie beschäftigten. Jetzt bemerkte sie trotz der Dunkelheit, wie blass Paul geworden war. Er machte einen Schritt auf das Gebäude zu, als wollte er den Feuerwehrleuten bei ihrer Arbeit helfen, doch da war plötzlich Bruno neben ihnen, den sie seit ihrem Zusammentreffen mit Dietrich auf der Seebrücke nicht mehr gesehen hatten.
»Bemerkenswerter Zufall, dass es innerhalb von acht Tagen schon das zweite Mal in Wustrow brennt, findest du nicht, Paul?«, fragte er.
Paul wandte sich ihm zu. »Allerdings. Bist du schon länger hier?«
»Ich habe die Feuerwehr alarmiert. Du weißt ja, manchmal hab ich diese merkwürdigen Träume, dann kann ich nicht wieder einschlafen. War auch diese Nacht so, also bin ich raus, um ein bisschen spazieren zu gehen.«
Das letzte Mal, als Bruno solche Träume gehabt hatte, war Pauls Bruder erschossen worden. Langsam wurde Bruno Kassandra unheimlich.
»Was war los?«, fragte Paul, der offenbar Brunos Träume als gegeben hinnahm.
»Ich kam vom Park«, sagte Bruno und deutete mit dem Daumen hinter sich, in Richtung des Turms. Dort begannen jetzt auch die Männer des anderen Löschgruppenfahrzeugs, ihre Gerätschaften einzuräumen. Zwei Polizisten - Kassandra kniff ihre Augen zusammen und meinte, dieselben beiden zu erkennen, die auch letzte Woche hier gewesen waren - redeten noch mit dem Wehrführer Matthias Wilke.
Währenddessen erzählte Bruno weiter. »Etwas war komisch, ich dachte zuerst, in den unteren Fensterscheiben des Turms würde sich zwischen den Holunderbüschen was spiegeln, bis ich begriff, dass das unmöglich war, in den Scheiben spiegelt sich schon lange nichts mehr. Eins der Fenster ist schon seit ewig kaputt, es ist nicht mal mehr mit einer Holzplatte abgedeckt, und als ich näher kam, sah ich es drinnen eindeutig flackern.«
Er wandte sich an Kassandra. »Ich schwöre, das war das erste Mal, dass ich wünschte, ein Handy zu haben. So blieb mir nichts anderes übrig, als zurück zur Parkstraße zu laufen und an die Terrassentür des erstbesten Hauses zu hämmern. Die Feriengäste waren leider ausgeflogen, also bin ich weiter zu Dr. Krüger, da hat mir endlich jemand aufgemacht.«
Der Zahnarzt hatte für den atemlosen Bruno die Feuerwehr benachrichtigt, aber Bruno hatte sich keine Zeit genommen, sich auszuruhen, sondern war sofort zurück zur Seefahrtschule gelaufen.
»Leider war ich trotzdem zu spät. Ich sah gerade noch jemanden aus dem aufgebrochenen Haupteingang kommen und wegrennen, mir fehlte bloß die Kraft, sie einzuholen, sie ist mir sozusagen vor der Nase abgehauen.«
»Sie?«, wiederholte Paul. »Du hast eine Frau gesehen?«
»Das mit der Nase war etwas übertrieben«, relativierte Bruno, »aber ich war nah genug dran, dass ich zumindest das erkannt habe. Der Mond schien, das half natürlich. Ja, es war ziemlich sicher eine Frau.«

 

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