Fischland-Verschwörung - Leseprobe

Fischland-Fluch Fischland Ostsee Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburg Urlaub Krimi Regiokrimi Spannung

Kassandra hatte weder Zeit noch Lust, Jan zu fragen, was er damit meinte. Also nickte sie bloß, verabschiedete sich beinah unhöflich knapp und lief eilig Richtung Norderfeld. Dann verlangsamte sie ihren Schritt. Konnte sie allein auf dem Jordan-Hof überhaupt etwas ausrichten? Sie brauchte Hilfe. Bis Kay aus Stralsund hier war, konnte es zu spät sein. Wenn – ein Schauer lief über ihren Rücken – es nicht sowieso schon zu spät war. Wen könnte sie sonst bitten? Jonas. Nein, Marlene würde sie killen, wenn Jonas es so bald nach der Stinne schon wieder mit Kriminellen zu tun bekam. Harald. Ihr Vater würde zweifellos mitkommen und sein Bestes geben, aber solche Situationen waren für ihn nicht gerade Routine. Heinz. Es gefiel ihr nicht, dennoch war er als ehemaliger Polizist trotz seiner noch nicht ausgeheilten Verletzungen die logische Wahl. Außerdem besaß er eine Pistole, ein nicht zu unterschätzender Vorteil.
    Kassandra blieb stehen, das Norderfeld schon im Blick. Sie blinzelte. Soweit sie von hier erkennen konnte, lag der Hof dunkel da. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Mit zitternden Fingern fischte sie ihr Handy wieder hervor und rief Heinz an.
    »Du bleibst, wo du bist, keine übereilte Aktion, klar?«, sagte er. »Ich bin gleich da.«
    Er brauchte weniger als fünf Minuten, dann stand er mit einem Beutel in der Hand vor ihr.
    »Hast du deine Pistole dabei?«, fragte sie.
    Heinz nickte und klopfte auf seine Jackentasche. »Ich hoffe, wir brauchen sie nicht, aber unbewaffnet ist mir zu gewagt.«
    Gemeinsam liefen sie auf den Gebäudekomplex zu, der auch von Nahem betrachtet wie ausgestorben wirkte, obwohl es noch nicht allzu spät war und Soraya und Gus Bauer sicher noch nicht im Bett lagen.
    »Vielleicht machen wir uns ganz umsonst Gedanken«, sagte Heinz leise. »Kann doch sein, dass Paul schon vor ein paar Stunden niemanden angetroffen hat.«
    Kassandra hätte das gern geglaubt. Dagegen sprach das ungute Gefühl in ihr, das sich verstärkte, als sie probehalber gegen die Eingangstür des Wohnhauses drückte und feststellte, dass sie nur angelehnt gewesen war.
    Ohne ein Wort tauschte sie einen Blick mit Heinz. Er nickte, zog seine Waffe, stieß die Tür weiter auf und betrat das Haus als Erster. In der großen Diele blieben beide stehen und lauschten erneut. Es knackte im Gebälk, ansonsten blieb alles still.
    Sorayas Verkaufstresen und die breiten Drehregale, auf denen sie ihre Keramik ausstellte, lagen im Schatten. Kassandra hätte schwören können, dass niemand hier war. Auch Heinz schien sich etwas zu entspannen. Dennoch gingen sie von Raum zu Raum und leuchteten vorsichtig mit den Taschenlampen hinein, die Heinz in seinem Beutel mitgebracht hatte. Dabei fanden sie nichts Ungewöhnliches oder gar Alarmierendes.
    Hatte Heinz recht? Gab es überhaupt keinen Grund, hier auf der Suche nach Paul herumzuschnüffeln? Andererseits war die offenstehende Haustür schon seltsam gewesen. Um sicherzugehen, dass sie nichts übersehen hatte, ließ Kassandra den Lampenstrahl noch einmal auf dem Boden kreisen. Sie hatte den Finger schon am Aus-Schalter, als etwas ganz kurz das Licht reflektierte. Kassandra lenkte den Strahl zurück auf den Gegenstand.
    »Was gefunden?«, fragte Heinz.
    Sie machte drei Schritte, bückte sich und klaubte Pauls Schlüsselanhänger vorm Boden auf – ein USB-Stick in Form eines silbernen Fisches.
    »Paul ist hier gewesen«, sagte sie, erhob sich wieder und hielt Heinz ihre ausgestreckte Hand hin. »Selbst wenn er eine von Sorayas Keramik-Figuren gekauft hätte – obwohl seine Mutter im Übrigen gerade erst letzten Monat Geburtstag hatte –, hätte er sein Portemonnaie zum Bezahlen gezückt und nicht sein Schlüsselbund. Auch falls er sich zuerst vergriffen hätte, wäre der Fisch nicht von selbst abgesprungen.«
    »Da ist was dran«, gab Heinz zu. »Wir sollten uns dringend die Scheunen vornehmen.«
    Beim Verlassen des Hauses achteten sie darauf, die Tür genauso zu hinterlassen, wie sie sie vorgefunden hatten. Dann wandten sie sich den beiden Scheunen zu, deren Tore sie wie schwarze Augen anzustarren schienen. Nach Kays Schilderung war die rechte Scheune diejenige, in der die Diamanten in die Keramikfiguren umverpackt wurden. Zielsicher marschierte Kassandra darauf zu, Heinz folgte dichtauf und ruckelte schließlich behutsam am Tor.
    »Ebenfalls nicht abgesperrt«, stellte er fest. »Reichlich leichtsinnig, wenn sich hier das Diamantenlager befindet.«
    »Falls es noch da ist«, sagte Kassandra. »Der gesamte Hof kommt mir so leer und unbewohnt vor, obwohl im Haus alles normal wirkt.« Eine Gänsehaut lief über ihren Rücken. Sie riss sich zusammen. »Wir werden es nur rausfinden, wenn wir nachsehen.«
    »Es wird Lärm verursachen, wenn wir das Tor richtig öffnen«, sagte Heinz, »aber wenn du recht hast, dürfte das sowieso keine Rolle spielen.«
    »Lass es uns nicht komplett, sondern nur einen Spalt aufschieben«, sagte sie, »weit genug, um uns durchzuquetschen.«
    »Probieren wir's.« Heinz zog am Tor, bis es ein paar Zentimeter offenstand. »Leuchte mal.«
    Kassandra hielt die Taschenlampe durch den Spalt, gleichzeitig drang ein Geräusch zu ihnen heraus, sodass sie vor Schreck beinah die Lampe fallen ließ. Instinktiv knipste sie sie aus.
    »Was war das?«, flüsterte sie erstickt.
    Heinz hob die Schultern und bedeutete ihr, sich zurückzuziehen. Gerade wollte sie dem Folge leisten, als sich das Geräusch etwas lauter wiederholte. Stöhnte da jemand? Plötzlich raste ihr Herz, sie vergaß alle Vorsicht, ignorierte Heinz' Hand, die sie stoppen wollte, und zog kräftig am Tor, bis sie hindurchschlüpfen konnte.
    Der Strahl der Taschenlampe glitt durch das Innere der großen Scheune. Von ihrem Standpunkt aus würde niemand vermuten, dass sich ganz hinten, verdeckt durch allerlei Gerätschaften und Heuballen und zusätzlich gesichert durch Vorhängeschlösser, etwas so Ausgefallenes wie ein Diamantenlager verbarg. Doch das interessierte Kassandra im Moment auch überhaupt nicht. Das Taschenlampenlicht erfasste eine Gestalt am Boden.
    »Paul!« Sie stürzte auf ihn zu, und nur in der hintersten Ecke ihres Hirns flüsterte eine kleine Stimme, dass sie möglicherweise in eine Falle rannte. Es kümmerte sie nicht.
    Kassandra ging neben Paul in die Knie. Während sie zitternd nach seinem Puls suchte, sah sie die Blutlache um seinen Kopf. Ihr wurde schwindelig, da bemerkte sie seinen schwachen, aber regelmäßigen Pulsschlag. Gott sei Dank! Fast gleichzeitig bewegte er sich, ein Stöhnen entwich seinen Lippen.
    »Paul! Kannst du mich hören?«
    Pauls Antwort bestand nur aus einem kaum hörbaren Ächzen.
    »Gib mir die Lampe«, sagte Heinz, der mittlerweile neben ihr kniete, »und sieh zu, dass du ihn in die stabile Seitenlage kriegst.«
    Das war leichter gesagt als getan, Paul war groß und viel schwerer als sie und offensichtlich nicht in der Lage, ihr zu helfen – ebenso wenig wie Heinz mit seinen gebrochenen Rippen. Pauls Stöhnen wurde wieder lauter, er bewegte seinen Arm, seine Hand fuhr zu seinem Gesicht, zuerst unkontrolliert, dann sicherer. Er kam zu sich.
    »Paul!« Kassandra streichelte seine Wange.
    Langsam öffnete er die Augen und starrte vor sich hin, konnte nichts fixieren. Dann wurde sein Blick klarer, er blinzelte ein paarmal.
    »Kass ...« Er musste sich räuspern und versuchte gleichzeitig, sich aufzurichten. »Kassandra? Was ...?«
    »Liegen bleiben!«, befahl Heinz. Er hatte seine Jacke ausgezogen, legte sie zusammengefaltet unter Pauls Kopf und drückte ihn sanft zurück zu Boden. »Du hast ordentlich was abgekriegt. Ist besser, wenn sich das ein Arzt ansieht.«
    Allein schon, dass Paul nicht protestierte, machte Kassandra deutlich, wie heftig es ihn erwischt hatte. Das viele Blut auf dem Boden und in seinen Haaren sprach außerdem Bände. Sie nahm seine Hand und drückte sie sanft.
    »Versuch, dich im Liegen zu bewegen, Arme, Beine – geht das?«, fragte Heinz unterdessen.
    Vorsichtig befolgte Paul auch diese Anweisung. »Scheint ... nichts gebrochen ... zu sein«, sagte er heiser.
    »Gut.« Heinz stand auf, nahm sein Telefon zur Hand und ging ein Stück zur Seite. »Ich rufe Dr. Weiß, der ist im Nullkommanichts hier.«
    Paul fing an zu nicken, ließ es aber sofort wieder bleiben. Stattdessen schloss er die Augen und atmete mehrmals tief ein und aus. Kassandra heftete ihren Blick auf ihn, blinzelte nicht mal, hielt seine Hand und verfolgte seine Atemzüge, bis Heinz sich wieder zu ihnen herabbeugte.
    »Dr. Weiß ist unterwegs. Er entscheidet, ob wir einen RTW rufen, sobald er sich Paul angesehen hat.«
    Paul zog eine Grimasse, widersprach aber nicht. Unsicher tastete er nach seiner Kopfwunde und verzog wiederum das Gesicht, als er die betreffende Stelle erwischte.
    »Besser nicht anfassen«, sagte Kassandra.
    »Dreck ist ... sicher schon ... genug dran«, murmelte Paul. »Wo ... ist ... Soraya?«
    »Nicht hier«, sagte Kassandra. »Und du ruhst dich jetzt aus. Nicht reden.«
    »Hm«, machte Paul. Dann schien ihm doch noch etwas einzufallen. »Ist sonst ... jemand da?«
    »Wir waren noch nicht in der zweiten Scheune, überall anders hat sich keiner blicken lassen«, sagte Heinz. »Jetzt hast du aber wirklich Sendepause, Paul, klar?«
    »Hm.«
    Nach wie vor hielt Kassandra Pauls Hand und ließ ihn nicht aus den Augen. Dennoch bekam sie mit, dass Heinz sich umsah, zuerst auf eine Stelle direkt neben Paul starrte und danach ins Scheuneninnere vordrang. Sie hoffte, dass sich dort niemand versteckt hielt, aber nach den Geräuschen zu urteilen, kramte Heinz allein da herum. Kurz darauf kam er zurück.
    »Was immer hier vorn passiert ist, hinten wurde ordentlich aufgeräumt. Wobei ordentlich sich nur darauf bezieht, dass nichts mehr von Diamanten oder Keramikfiguren mit hohlen Sockeln zu sehen ist. Ansonsten sieht es im Gegensatz zu den Räumen im Haus nach abruptem Zeltabbruch aus.«
    Paul öffnete den Mund, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu sagen.
    »Hallo?«, erklang Dr. Weiß' Stimme von draußen. »Herr Jung?«
    »Hier drin!«, rief Heinz, ging ihm entgegen und führte ihn zu Paul.
    Dr. Weiß nickte Kassandra nur kurz zu und bat sie mit der Taschenlampe zu leuchten, dann schaute er sich Pauls Kopf an. »Ich frage besser nicht, wem Sie mal wieder auf der Spur sind und was passiert ist. Auf jeden Fall hat es Sie ziemlich übel erwischt.« Er machte sich daran, die Wunde zu säubern, zu untersuchen und zu verbinden. »Kopfwunden bluten höllisch, aber alles in allem hatten Sie Glück. Der Schädelknochen ist unverletzt.« Geschickt half er Paul, sich vorsichtig aufzusetzen, machte einige Sehtests, stellte ein paar einfache Fragen und diagnostizierte schließlich: »Sie haben ein Schädel-Hirn-Trauma, nicht allzu schwer, aber Sie sollten zur Beobachtung mindestens eine Nacht ins Krankenhaus. Dass Sie so lange ohnmächtig waren, macht mir Sorgen.« Er zückte sein Telefon. »Ich rufe einen Rettungswagen.«
    »Nein«, protestierte Paul nun doch. »Ich ... bin sicher, ich bin zu Hause gut ... aufgehoben.« Er hob den linken Arm und wollte offenbar noch einmal nach seinem Kopf tasten, als er zusammenzuckte.
    »Kopfschmerzen? Kein Wunder«, sagte Dr. Weiß. »Sie sollten wirklich ...«
    »Nein«, widersprach Paul erneut. »Ich meine ja, mein Kopf brummt, aber eben ... tat bloß ... mein Arm weh. Ich möchte nicht ins Krankenhaus.«
    »Na schön. Ich kann Sie nicht zwingen. Ich bin mit dem Wagen hier, fahre den jetzt direkt vor die Scheune, lade Sie ein, und dann kutschiere ich Sie nach Hause. Da werde ich Sie nochmals gründlich untersuchen. Auch ihren Arm.« Dr. Weiß erhob sich. »Bis gleich.« Dann wandte er sich an Kassandra und Heinz. »Passen Sie auf, dass er so lange still sitzen bleibt.«

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