Seegeflüster

"Liebe Zeit", sagte ich, "das ist ja gruselig." Ich sah von dem Notizblatt hoch zu Paul.

"Findest du, Greta?" Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

Ich spürte, dass ihn mein Urteil freute. Was wiederum mir sehr viel bedeutete. Als ich Paul kennenlernte, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass sich hinter ihm Alexander Hardenberg verbarg - der Schriftsteller, vor dem ich als Autorin jederzeit bereit gewesen wäre, einen Kniefall zu machen. Ich fürchte, ich bediente das Klischee "vom Donner gerührt", als Matthias es mir endlich sagte, noch dazu im Beisein von Paul und Kassandra. Am liebsten hätte ich ihn umgebracht, weil er mich so hatte auflaufen lassen - und niemandem hätte es Mühe bereitet, diesen Mordfall zu klären. Aber dann hatte ich bemerkt, dass sich keiner über mich amüsierte, sondern sich alle bloß über meine Überraschung freuten. Und ich lernte ziemlich schnell, dass Paul irgendeinen Kniefall mindestens so gruselig gefunden hätte, wie ich seine Geschichte, die ich gerade gelesen hatte.

"Und ob ich das finde. Warum hast du das nicht in deiner Anthologie veröffentlicht?", wollte ich wissen. "Ich meine, du hast ihr immerhin den Titel dieser Geschichte gegeben."

"Weil das wirklich gut passte. Den Text an sich fand ich zu kurz, um ihn mit aufzunehm. Und außerdem ..." Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

"Du willst noch mal was Längeres draus machen", schlussfolgerte ich.

Paul nickte. "Ich hab da auch schon eine Idee. Einstweilen freut's mich, dass es dir auch in dieser Version gefällt."

Ich ließ den Blick zurück auf das Blatt gleiten. Die Geschichte war tatsächlich nur kurz - und hatte doch enorme Sogkraft und Wirkung. Was ich ganz persönlich bewunderte. Ich konnte nicht sonderlich gut "kurz", meine Romane waren immer ziemlich lang geworden, und als ich noch Liebesroman-Hefte schrieb, war das Schwerste daran gewesen, mich an die Seitenvorgabe zu halten. Ich las noch einmal, was Paul geschrieben hatte - und war am Ende genauso fasziniert wie beim ersten Mal.

 

Seegeflüster

 

„Hörst du das?“ Sie sah, wie er in die Nacht lauschte. Bitte, dachte sie, lass es ihn hören.
„Meinst du das Plätschern der Wellen?“, fragte er.
Das konnte jeder hören. „Nein. Versuch es noch mal.“
Er drehte sich um sich selbst. „Musik. Ganz leise, vielleicht vom Restaurant am Strand.“
Enttäuscht wandte sie sich ab. Warum hörte er es nicht? Sie hörte es. So schrecklich laut. Sie starrte in die See, die See starrte mit 1000 Augen aus der Tiefe zurück.
„Siehst du das da unten?“ Sie deutete in die nachtblaue See.
„Ist das ein Quiz?“, fragte er lächelnd, bevor er sich über das niedrige Geländer beugte. „Da ist nichts.“ Er richtete sich wieder auf. „Lass uns zurückgehen. Wir hätten gar nicht herkommen dürfen, da war doch dieses Schild.“
„Welches Schild?“, fragte sie, obwohl sie es genau wusste.
„Das, auf dem stand, dass die Bohlen und das Geländer repariert werden müssen.“
„Hier war nie was kaputt.“ Nicht in den letzten 200 Jahren, aber das sagte sie nicht laut. „Sieh noch mal genau hin.“ Abermals deutete sie auf die See.
„Aber da ist nichts!“
„Doch. Sieh hin.“ 1000 Augen, dachte sie. Warum hört er es nicht?
Resigniert beugte er sich erneut hinunter. Tiefer diesmal, viel zu tief. „Da ist ...“, begann er, doch bevor er „nichts“ sagen konnte, das schrecklichste aller Worte, stieß sie ihn mit aller Macht.
Er versuchte, sich fangen, sich zu wehren. Sie war stärker. Wie jedes Mal. Die Stimmen der See forderten - und verliehen ihr gleichzeitig Kraft. Erst wenn eines Tages einer käme, der das Flüstern hörte wie sie, würden die Stimmen schweigen.
Sie musste dafür sorgen, dass es lauter wurde. Lauter. LAUTER.
Stille. Er wurde hinabgezogen in die See wie die anderen vor ihm. Morgen, nächste Woche, nächstes Jahr würden 1002 Augen aus der See emporstarren.
Vorn am Strand drehte sie sich noch einmal um und betrachtete das Schild, das seit 200 Jahren jeden warnte. Und niemals einen Mann abgehalten hatte, ihr zum Brückenkopf zu folgen – wo die Stimmen auf sie warteten.