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Krimi-Spaziergang 1 - Richtung Barnstorf

Bei meinen Krimi-Spaziergängen führe ich meine Leserinnen und Leser quer durch Wustrow zu den Schauplätzen meiner Krimis - bunt gemischt aus der Fischland- und der Bodden-Reihe. Für Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die meine Romane noch nicht kennen (ein paar sind fast jedes Mal dabei, als Begleitperson oder weil die großartigen Hingucker-Plakate von Arnt Löber neugierig gemacht haben) gibt's eine kleine Einführung.

 

Da der Treffpunkt traditionell die Swantewit-Figur auf der Wustrower Seebrücke ist, beginne ich gleich dort. Genau wie an allen folgenden Stationen lese ich eine kleine passende Szene, und natürlich gibt's auch immer die Möglichkeit, mir an jedem Schauplatz oder auf den Wegen dazwischen Fragen zu stellen oder einfach nur mit mir zu klönen. Wer hier virtuell dabei ist und auch Fragen auf dem Herzen hat - ein Klick auf "Kontakt" oben rechts genügt. ;-)

 

Hier folgen nun die Schauplätze des aktuellsten Spaziergangs von 2020 - Stationen und entsprechend die Texte variieren von Jahr zu Jahr, es ist also immer wieder Neues dabei.

 

Und jetzt geht's endlich los!

1. Station

Swantewit auf der Seebrücke

"Fischland-Mord", Kassandras 1. Fall

 

»Mir fiele da jemand ein«, sagte Jonas langsam. »Jemand, der so furchtbar korrekt ist, dass mir die Gefahr der Korruption sehr gering erscheint.« Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, als habe er einen unverschämt guten Witz gerissen.
»Wen meinst du?«, wollte Kassandra ratlos wissen.
»Heinz«, sagte Paul beinah gleichzeitig. »Jonas, du bist verrückt, das können wir nicht tun.«
»Warum nicht? Er ist die Idealbesetzung, er hat ...«
»Blödsinn! Er hat keinerlei Kontakt zur Mordkommission in Anklam«, widersprach Paul unwillig, »und selbst wenn, wüsste er genauso wenig wie wir, wer vertrauenswürdig ist. Heinz ist seit zwei Jahren nicht mehr im Dienst.«
»Woher willst du wissen, dass er keinen Kontakt hat?«, gab Jonas zurück. »Jungs Job war für ihn mehr als nur ein Job, auch wenn er nie die große Karriere gemacht hat. Ich wette, er kennt noch eine Menge Kollegen.«
»Vielleicht, vielleicht nicht«, sagte Paul. »Ich halte das für ein gefährliches Vabanquespiel, wir können unmöglich ...«
Jonas ließ ihn nicht ausreden. »Fällt dir was Besseres ein? Wir kennen niemanden sonst, der mit der Polizei zu tun hat. Jetzt lass doch mal die alten Geschichten und denk rational! Du bist ...«
Paul machte einen Schritt auf Jonas zu, der sofort abbrach. Trotz der Dunkelheit konnte Kassandra erkennen, dass sich Pauls Ausdruck verändert hatte. Ärger spiegelte sich darin wider, und er sprach lauter als zuvor. »Das hat absolut gar nichts mit irgendwelchen alten Geschichten zu tun! Ich habe gesagt, weshalb ich Heinz für ungeeignet halte, und dabei bleibe ich.«
»Erzähl mir bloß nicht, dass du mit Jung keine Probleme mehr hast, nur weil das eine Ewigkeit her ist. Du kannst nicht vergessen, das ist es nämlich!«
Paul blitzte Jonas an. »Du musst schon mir überlassen, was ich vergesse und was nicht«, sagte er mit kaum unterdrücktem Zorn. »Wenn ich sage, dass meine Einwände nichts mit damals zu tun haben, kannst du mir glauben oder es lassen. Es ist mir gleich.«
»Dann nenn uns eine vernünftige Alternative! Du bist ein sturer Dickkopf, Paul! Weshalb glaubst du eigentlich, dass du immer recht hast?«
»Wie bitte? Tu mir einen Gefallen und komm runter, ja? Du weißt ja nicht mehr, was ...«
»Hört auf!« Kassandra hatte hilflos daneben gestanden und zugesehen, wie der Streit eskalierte, ohne zu wissen, worum es ging. Sie stritten nicht wirklich über Heinz Jung. Es schien vielmehr, als breche etwas aus ihnen hervor, was schon längere Zeit geschwelt hatte.

2. Station

Seenotstation/Grandhotel Dünentraum

"Bodden-Nebel", Gretas 2. Fall

 

Ich hatte gerade die Seenotstation mit ihren großen grünen Toren passiert, da kam ein paar Meter vor mir Tom aus dem »Dünentraum« und schaute die Strandstraße hinauf und hinunter. Wenn ich nicht gerade unter einer Laterne gestanden hätte, hätte er mich übersehen, so jedoch winkte er mir. Ich erwiderte das Winken und ging auf ihn zu
»Gefällt es Ihnen im ›Dünentraum‹?«
»Sehr ansprechend«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. »Zu Abend würde ich allerdings gern in einem typischen Restaurant essen. Darf ich Sie nach einer Empfehlung fragen?«
»Versuchen Sie die ›Schifferwiege‹, besonders wenn Sie Fisch mögen. Strandstraße hoch und vorn links in die Karl-Marx-Straße.«
Tom hob die Brauen. »Was für ein einprägsamer Straßenname, das werde ich finden.«
»Sie können sich auch gern mir anschließen, ist meine Richtung.«
»Mit Vergnügen.« Er ging ein paar Meter schweigend neben mir her. »Was hat Sie aufs Fischland verschlagen, Greta? Die Biografie über Carl Röwer?«
Ich stutzte. »Woher wissen Sie, dass ich nicht von hier stamme?«
»Hab mich schlau gemacht, ich bin ein neugieriger Mensch. Sie kommen aus Hameln – eher Rattenfänger als Karl Marx. Obwohl man über Ähnlichkeiten diskutieren könnte. Bevor Sie herkamen, haben Sie historische Romane geschrieben. Machen Sie das weiter? Es gibt bestimmt ein paar interessante Fischländer Themen, die Sie aufgreifen könnten.« Sein Tonfall war schwer zu interpretieren. Wollte er etwas aus mir herauslocken?
»Jede Menge“, sagte ich. „Abgesehen von unzähligen Seefahrern, der Seefahrtschule, einem Schiffsschnitzer, Malern und Schriftstellern, einer berühmtem Gymnastiklehrerin und einem Bundespräsidenten hatten wir hier auch eine Hexe. Das ist natürlich schon sehr lange her.«
»Natürlich«, sagte Tom erheitert. »Ich weiß trotzdem nicht, ob es den Bundespräsidenten freuen wird, in einem Atemzug mit der Hexe genannt zu werden.«
»Die arme Tilsche Schellwegen war ja unschuldig. Sicher würde er es weniger schätzen, wenn ich ihn in einem Atemzug mit Adolf Seefeld erwähnt hätte.«
»Mit wem?«
»Seefeld war ein Serienmörder, der es auf kleine Jungen abgesehen hatte. Einem Gerücht nach zu urteilen hat er eine Zeitlang als Uhrmacher in Wustrow gelebt, äußerst beliebt bei den Damen nebenbei. Nach seiner Hinrichtung in Schwerin soll er auf dem Wustrower Friedhof verscharrt worden sein.«
Tom blieb stehen. »Verscharrt? Einfach so?«
Ohne Vorwarnung hörte ich ihn in meiner Vorstellung hinzufügen: Wie die britischen Flieger? Wie meine Landsleute? Unsinn. Ich sah schon Gespenster. Oder doch nicht? Falls es sich bei seinem Urgroßvater um Sergeant Leach handelte, wäre diese Frage gar nicht so abwegig gewesen.
Ich räusperte mich. »Dafür gibt es keine Beweise.« Noch während ich das sagte, registrierte ich, wie doppeldeutig das in diesem Zusammenhang klang, zumindest für mich. »Es gibt nicht mal Beweise dafür, dass Seefeld überhaupt je hier war.«
Langsam setzte Tom sich wieder in Bewegung. »Manche Dinge bleiben wohl für immer im Verborgenen.« Er hatte leise und ernst gesprochen, doch beim nächsten Satz lächelte er wieder. »Es sei denn, Schriftsteller graben alte Geschichten aus und fabulieren ein Märchen drum rum.«
»Vielleicht tue ich das.« Was in meinen Ohren wiederum sehr doppeldeutig klang.

3. Station

Im Park

"Fischland-Verrat", Kassandras 4. Fall

 

Von weiter hinten im Park drang eine aufgebrachte männliche Stimme zu ihnen herüber, laut, aber nicht laut genug, dass Kassandra und Paul verstehen konnten, was gesagt wurde. Eine zweite Stimme antwortete, weiblich, weniger laut. Doch je näher sie kamen, desto besser konnten sie die Worte ausmachen.
»Glaubst du, ich lass mich von dir für dumm verkaufen?«, sagte der Mann wütend. »Du weißt genau, wo das Schiff ist!«
»Nein! Ich sage doch, ich habe keine Ahnung. Warum lassen Sie mich nicht in Ruhe?« Die Frau klang ängstlich, und im Gegensatz zur Stimme des Mannes, die Kassandra fremd war, identifizierte sie die der Frau sofort.
»Weil du lügst. Du sagst mir jetzt, wo das Schiff versteckt ist, oder du kannst was erleben. Du oder dein großkotziger Mann. Oder ihr beide.«
»Nein. Bitte, nicht mein Mann.« Sonia Arndts Verzweiflung war in jeder Silbe zu hören.
»Gibt's Probleme?«, fragte Paul laut und deutlich. Er hatte sich weiter auf die beiden zubewegt, Kassandra dicht auf.
Irritiert, aber überhaupt nicht erschrocken drehte der Mann sich um. Er war groß und um die dreißig, die Spitzen seiner kurzen dunkelblonden Haare hatte er mit Gel in Form gebracht. »Zieh Leine, dann kriegst du wenigstens keine Probleme, Alter«, raunzte er.
Unbeeindruckt verschränkte Paul die Arme vor der Brust. »Ich hoffe, Sie nennen jeden so, alles andere hätte ich nämlich nicht so gern. Außerdem habe ich was gegen Typen, die Frauen belästigen. Verschwinden Sie.«
Im Lachen des Mannes lag Häme pur. Er machte einen drohenden Schritt auf Paul zu, richtete seine Worte jedoch an Sonia Arndt. »Ich belästige doch niemanden, oder? Wie wär's, wenn du das dem reifen Knaben hier verklickerst?«
»Ich weiß gar nicht, was Sie von mir wollen«, brachte sie heraus.
Der Mann lachte wieder, diesmal deutlich amüsiert, wandte sich um und machte einen Satz auf sie zu. »Dann will ich deinem Gedächtnis mal auf die Sprünge helfen.«

Er holte aus und wollte ihr eine Ohrfeige verpassen, doch Paul war schneller. Er packte seinen Arm, schleuderte den Mann herum und verpasste ihm mit der freien Hand einen so kräftigen Kinnhaken, dass er auf dem Boden landete. Ein paar Zweige unter dem Körper des Fremden knackten, er stöhnte auf, seine rechte Hand fuhr an seinen linken Ellenbogen, der offenbar auf etwas Hartes geprallt war. Dennoch war der Schmerz nicht groß genug, als dass er nicht versucht hätte, sich sofort wieder aufzurichten. Dazu ließ es Paul nicht kommen. In einer fließenden Bewegung ging er in die Hocke, drückte sein rechtes Knie auf die Brust des anderen und hielt dessen Arme fest am Boden. Kalt sagte er: »Deinetwegen krieg ich bestimmt keine Probleme, Junge.« Er übte leichten Druck auf den verletzten Arm des Mannes aus, der erneut aufstöhnte. »Wenn du willst, dass ich dir den nicht breche, weder jetzt noch in Zukunft, dann lass dich hier nie wieder blicken.«

Der Mann starrte ihn wortlos an, aus seinen Augen schossen Blitze der Wut, auf Paul und ganz sicher auch auf sich selbst, weil er seinen Gegner unterschätzt hatte.
»Hast du mich verstanden?«, fragte Paul. Der Mann schwieg, erst ein weiterer Druck auf seinen Arm brachte ihn zum Sprechen.
»Ja«, presste er hervor.
Paul erhob sich und trat zu Kassandra und Sonia Arndt. Der Fremde rappelte sich hoch. Als er stand, noch etwas wackelig auf den Beinen, warf er einen hasserfüllten Blick auf Paul. »Glaub ja nicht, dass du mich zum letzten Mal gesehen hast.«
»Ich hoffe doch“, sagte Paul. „Für deinen Arm.«
Unsicher stolperte der Mann ein paar Schritte rückwärts, ohne Paul aus den Augen zu lassen, dann drehte er sich um und lief durch den Wald in Richtung Seefahrtschule davon.

4. Station

Parkstraße, Haus der Familie Arndt

"Fischland-Verrat", Kassandras 4. Fall

 

Bald hatte Kassandra Paul eingeholt, schwieg jedoch wie er, bis sie vor dem Haus der Arndts in der Parkstraße ankamen, dessen Fenster und Eingangstür unbeleuchtet waren. Glücklicherweise war es bereits weit nach Mitternacht, die Häuser um sie herum lagen im Dunkel. Ohne zu zögern öffnete Paul die Gartenpforte, trat an die Haustür und drückte mit dem Arm dagegen. Geschlossen. Paul umrundete die kleine Laube und betrat seitlich vom Haus einen schmalen Weg, der auf eine Terrasse führte, dicht gefolgt von Kassandra. Paul sah durch die Scheibe der Terrassentür.
»Kannst du was erkennen?«, flüsterte Kassandra.
Wortlos ging Paul ein Stück weiter und bog hinter dem Haus um die Ecke. Dort gab es eine zweite Terrasse, auch hier schaute Paul durch die Scheiben ins Hausinnere, dann sah er zu Boden. Schließlich bückte er sich und ruckelte an zwei Steinen, die ganz vorn an der Tür eingelassen waren. Einer davon saß locker, Paul zog ihn aus der Lücke. Kassandra hatte weniger Skrupel, ins Haus der Arndts einzudringen, als angemessen gewesen wäre, aber wenn Paul die Scheibe einwarf, würde er nicht nur die Nachbarn auf den Plan rufen, sondern vor allem auch denjenigen warnen, der möglicherweise noch im Haus war.
»Bist du verrückt?«, wisperte sie.
Paul gab keine Antwort, stattdessen tastete er die Lücke ab und holte etwas daraus hervor. »Kellertürschlüssel«, flüsterte er, erhob sich und zog Kassandra mit um die nächste Hausecke.
An der anderen Seite des Hauses führte eine Treppe zu einer Tür hinab. Auf jeder zweiten Stufe stand ein Blumentopf mit je einer Hortensie, doch mehr ins Auge fiel die aufgebrochene Tür. Kassandra stand noch auf der vorletzten Stufe, als Paul bereits vorsichtig mit dem Fuß gegen die Tür stieß.
Im selben Moment wurde sie von innen aufgerissen, eine große, dunkle Gestalt stürzte sich auf Paul und erwischte ihn mit einem Gegenstand hart an der Schläfe. Paul gab einen erstickten Überraschungslaut von sich und ging zu Boden. Kassandra erschrak zu Tode, da stieß der Mann sie ebenfalls zur Seite und hechtete mit gesenktem Kopf die Kellertreppe hoch. Kassandra achtete kaum auf ihn, ihre bewussten Gedanken galten einzig und allein Paul. Hastig sprang sie die letzten beiden Stufen auf einmal hinunter und kniete neben ihm nieder. Er lag halb auf den Steinplatten, halb lehnte er an der Mauer im Türeingang, bewusstlos. In ihr krampfte sich alles zusammen.
Behutsam berührte sie sein Gesicht. »Paul?«, wisperte sie. Liebe Zeit, was sollte sie tun? War noch jemand im Haus? Jemand mit einer Waffe? »Paul?«, versuchte sie es noch einmal. Er rührte sich nicht. Panisch fischte sie in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy. Sie musste Heinz anrufen! Oder besser gleich einen Krankenwagen, egal, wie sie dann erklären sollte, was sie hier taten. Nur Paul war jetzt wichtig. Sie hatte gerade die Notrufnummer auf dem Display, die Verbindung aber noch nicht hergestellt, als Paul ein leises Stöhnen von sich gab und sich bewegte.
»Paul?«
»Was …« Er verzog das Gesicht, »ist passiert?«
Unendlich erleichtert, dass er wieder bei Bewusstsein war, sagte sie: »Der Einbrecher muss uns gehört haben. Als wir die Treppe runterkamen, hat er das ausgenutzt und dich niedergeschlagen.«
Paul stöhnte abermals, fuhr sich mit der Hand an die rechte Schläfe und versuchte, sich aufzurichten.
»Langsam. Bleib noch sitzen.«
»Keine Zeit«, sagte Paul. »Max ist da drin. Wir müssen nach ihm sehen.« Er schaffte es mit ihrer Hilfe aufzustehen, ragte dabei aber einen der Blumentöpfe von der Treppe herunter, der mit einem Klirren zerbrach.
»Stehen bleiben da unten, Hände an die Wand«, ertönte in diesem Augenblick eine leise, aber dennoch messerscharfe Stimme über ihnen.

5. Station

Lindenstraße, Kassandras Pension

"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall

 

(Anmerkung: Es gibt für Kassandras Pension kein echtes Vorbild. Ich habe mir ihr Haus nach meinen bzw. ihren Bedürfnissen zurechtgebastelt. Aber da so viele tolle Kapitänshäuser in der Lindenstraße stehen - sucht Euch einfach das aus, das Euch am besten gefällt!)

 

In der Lindenstraße nahm sie sich nicht die Zeit, ordentlich einzuparken, sondern ließ ihren Wagen schief am Straßenrand stehen, fuddelte kurz darauf an Heinz' Vorgartentörchen herum, bis sie es endlich offen hatte, hetzte weiter zu seiner Tür und klingelte Sturm. Atemlos wartete sie. Niemand öffnete. Sie trat zurück und bemerkte erst jetzt, dass nirgends Licht brannte. Erneut drückte sie auf die Klingel, nahm ihren Finger nicht herunter. Sie konnte das Läuten bis hier draußen hören. Aber niemand kam. Sie ließ die Klingel los und lauschte wider besseres Wissen. Nichts zu hören.
Sie hetzte zurück durch den Vorgarten und jagte den Weg entlang, der ein paar Meter zwischen ihrem und Heinz' Grundstück verlief. Als der Weg endete, kletterte sie über den Zaun in seinen Garten und schaute an seinem Haus empor. Genau wie vorn – keine Fenster erleuchtet.
Verdammt!
Mit zitternden Fingern suchte sie in ihrer Tasche nach ihrem Hausschlüssel, während sie schon wieder zurücklief. Schlüssel ins Schloss, Tür aufstoßen, fast wäre sie über den Läufer in der Diele gestolpert, ins Büro, Telefon! Sie nahm es auf, um Heinz anzurufen, da wurde ihr bewusst, dass sie seine Nummer nicht auswendig wusste und im Festnetztelefon auch nicht eingespeichert hatte. Genauso wenig wie Haralds Nummer. Nur Pauls. Ihre Finger flogen über die Knöpfe. Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar.
Was um alles in der Welt war mit Paul? Wieso war sein Telefon tot? Fast hätte sie ihres fallenlassen. Die Panik drohte sie zu überwältigen. Sie wusste nicht, was bei Paul los war, sie wusste nicht, wo er steckte. Ob er Julia getroffen hatte. Ob sie ihm auf die Schliche gekommen war. Ob sie Clasen eingeschaltet hatte. Kassandra zwang sich, ruhiger zu werden, nachzudenken, zu überlegen. Vielleicht war einfach Pauls Akku leer. Nein. Sein Akku war niemals leer. Das war ihre eigene Spezialität.
Harald. Sie musste Harald anrufen, vielleicht wusste der irgendwas. Wo Paul war. Wo Heinz war. Falls nicht, könnte er sie wenigstens zum Norderfeld begleiten. Sie musste rüber zu Heinz, Heinz war ein organisierter Mann, garantiert hatte er sämtliche Nummern auch in seinem Festnetzapparat gespeichert, nicht nur im Handy.
Schreibtischschublade, Heinz' Ersatzschlüssel. Sie griff danach – ins Leere. Irritiert blinzelte sie, dann sah sie ihn rechts in der Schublade liegen. Lag er nicht sonst immer links? Egal. Schlüssel, zurück auf die Straße, Vorgartenpforte, Tür, Heinz' Schloss klemmte.

6. Station

Alte Eiche

"Fischland-Angst", Kassandras 5. Fall

 

»Was haben Sie in dem Rucksack?«, fragte Arvid, nachdem sie Heinz‘ Haus verlassen und in den Birkenweg gebogen waren.
»Werkzeug«, antwortete Heinz wortkarg.
»Um in den Keller einzubrechen«, stellte Arvid fest.
»Das ist der Sinn der Sache. Oder wollen Sie höflich anklopfen und warten, bis uns jemand reinlässt?«
Die nächsten Meter legten sie schweigend zurück. Matthias glaubte, ein paar Regentropfen auf seinem Gesicht zu spüren, doch als sie auf den Platz mit der Alten Eiche anlangten, hörte der Regen auf. In anderthalb Monaten würde hier der Wustrower Weihnachtsmarkt aufgebaut sein, die Leute würden Glühwein trinken, die Kinder Zuckerwatte essen. Letztes Jahr war Matthias mit Greta hier gewesen – zum ersten Mal seit urewigen Zeiten. Er hatte nicht mehr gewusst, wie viel Spaß so was machen konnte.
Einen verrückten Moment lang erstand vor seinem inneren Auge ein Bild: Greta und er und zwischen ihnen, ihre Hände haltend, ein Kind, das mit leuchtenden Augen all die Verlockungen und bunten Lichter betrachtete. Energisch wischte Matthias diese Vorstellung fort und kehrte zurück in die Gegenwart, gerade als Arvid sich räusperte.
»Falls Greta da unten nicht allein ist – was tun wir dann?«
Heinz gab ein undefinierbares Geräusch von sich, und in seiner Antwort lag die ganze Skepsis, die er vorhin in seiner Frage Matthias gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. »Sie können die Angelegenheit gern Matthias und mir überlassen, wäre nicht das erste Mal, dass wir uns gemeinsam ganz gut schlagen.«
»Ich habe nicht gefragt, weil ich Angst habe«, sagte Arvid scharf, um etwas bedächtiger hinzuzufügen: »Jedenfalls nicht meinetwegen. Ich nehme an, in dem Rucksack ist nicht bloß Werkzeug, sondern auch Ihre Waffe.«
»Wenn ich die in einer kritischen Lage erst aus dem Rucksack holen müsste, könnte es leicht zu spät sein«, entgegnete Heinz.
»Jedenfalls haben Sie Ihre Waffe dabei«, schloss Arvid. »Das kann danebengehen.«
»Sie halten wirklich wenig von den Fähigkeiten der Polizei, was, Herr Sundberg? Ich werde mir die größte Mühe geben, nicht wild durch die Gegend zu ballern und nicht versehentlich Greta, Ihren Sohn oder Jan Möller zu erschießen«, sagte Heinz sarkastisch.

7. Station

Zwischen Karl-Marx- und Ernst-Thälmann-Straße,

Haus von Werner Joerk

"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall

 

Werner Joerk wohnte in dem schmalen Weg, der die Ernst-Thälmann- mit der Karl-Marx-Straße verband. Um diese Jahreszeit war es hier besonders lauschig, man fühlte sich wie unter einem grünen Blätterdach, rechts und links standen Bäume, die ihre Zweige weit über ihnen ausstreckten, dazu säumten Hecken die niedrigen Zäune. Auf halber Höhe des Weges stand das aus rotem Backstein gemauerte Fachwerkhaus. Kassandra und Paul betraten den Vorgarten, den eine dekorative uralte Wasserpumpe umrahmt von einem Rosenstrauch zierte. Bewundernd ließ Kassandra ihren Blick über die beiden Flügel der dunklen grünblauen Haustür schweifen. In jedem war ein langes schmales Fenster eingelassen, auf denen je ein weißes fein ziseliertes und beinah klassizistisch anmutendes Dreieck thronte. Paul schien für so etwas heute keinen Blick zu haben, zielstrebig drückte er auf die Klingel.
Der Mann, der so schnell die Tür öffnete, als habe er dahintergestanden, war etwa in Brunos Alter, hatte aber nicht mehr halb so viele Haare auf dem Kopf. Er bat sie durch in den Garten, in dem auf einem Tisch ein Krug mit Zitronen-Minze-Wasser und Gläser standen.
»Setzen Sie sich doch.« Er deutete auf die Stühle und schenkte ihnen ein. »Herr Freese, ich wollte schon das eine oder andere Mal bei Ihnen vorbeikommen, seit ich wieder hier bin, aber dann dachte ich, Sie würden sich ohnehin nicht an mich erinnern. Sie können sich also meine Überraschung vorstellen, als Bruno mich gestern anrief und sagte, Sie würden mich gern wegen Eberhard Thurow sprechen. Kann mir gar nicht vorstellen, was Sie nach so langer Zeit an ihm interessiert.«
»Hauptsächlich«, begann Paul, »geht es um seinen Sohn Dominik. Seine Freundin versucht ihn zu finden, und alles, was sie über ihn weiß, ist, dass seine Eltern vom Fischland stammten.«
»Dominik? Ich fürchte, das sagt mir gar nichts. Eberhard Thurow und ich waren nicht befreundet, nur Kollegen, und der Kontakt endete, nachdem er mit seiner Frau aus Wustrow wegzog. Da gab es noch keinen Sohn.«
Die kleine Pause vor dem letzten Satz ließ Kassandra aufhorchen. An einem winzigen Zucken in Pauls Gesicht erkannte sie, dass es ihm genauso ging.
»Da Sie Thurows Frau erwähnen – kannten Sie sie näher?«
Joerk schüttelte den Kopf. »Man grüßte sich, wenn man sich sah, ab und zu wechselte man ein paar Worte, und häufig habe ich beobachten müssen, wie sie Eberhard aus der Reuterschänke holte. Sie tat mir leid, ich machte mir so meine Gedanken, wie lange sie das noch mitmachen will. Mehr hatte ich aber nicht mit ihr zu tun.«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch nicht, ob sie schon schwanger war, als die Thurows Wustrow verließen.«
Joerk schürzte die Lippen. »Wie gesagt, ich kannte die beiden nicht wirklich gut.«
»Das ist nicht direkt eine Antwort«, meinte Paul lächelnd. »Ich weiß Ihre Diskretion zu schätzen, Herr Joerk. Bruno hat mich vorgewarnt, dass Sie nicht zu Klatsch und Tratsch neigen. Mir sind selbst schon ein paar Gerüchte zu Ohren gekommen, die uns aber nicht weitergebracht haben.« In wenigen Sätzen berichtete er, was er gehört hatte. »Das alles endete in einer Sackgasse, weshalb wir hoffen, dass Sie noch etwas hinzufügen können.«
Joerk nippte an seinem Wasser, stellte das Glas sorgfältig wieder auf den Tisch und beobachtete, wie die Sonnenstrahlen auf den Krug fielen und die Zitronenscheiben und die Minzeblätter noch frischer aussehen ließen. Kassandra musste sich zwingen, nicht ungeduldig mit den Füßen zu wippen, Paul war dagegen nichts anzumerken. Er wartete ruhig.
Werner Joerk öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Öffnete ihn wieder und sagte nur zwei Worte. »Gerd Jordan.«
Kassandra und Paul starrten ihn fassungslos an.

8. Station

Fischländer Kirche

"Fischland-Rache", Kassandras 2. Fall

 

Sie waren vor dem weit geöffneten Portal der Kirche angekommen. Drinnen war es so voll, dass sie kaum vorankamen, nachdem sie ihre Eintrittskarten gekauft hatten. Sie schoben sich gerade bis zur Hälfte des kurzen Ganges zum Hauptschiff vor, da drängelten von hinten noch ein paar Nachzügler. Einer davon trat Paul in die Hacken. Der fluchte leise und drehte sich um.
Der Endvierziger mit der braunen, lockigen Künstlermähne, die ihm ebenso gut stand wie Frack und Fliege, trug eine dicke Mappe unter dem Arm und zuckte zurück, seine Augen weiteten sich eine Sekunde lang. Kassandra sah, dass Paul etwas sagen wollte, doch da entschuldigte sich Clemens Meisner und zwängte sich an ihnen vorbei weiter nach vorn.
»War das nun ein zerstreuter Musiker mit Lampenfieber, oder hat er sich erschrocken, ausgerechnet dich hier zu sehen?«, wollte Kassandra wissen.
»Sehr gute Frage.« Pauls Blick, der Meisner folgte, war ernst.
In einer der Bänke entlang des Seitenschiffes fanden sie wider Erwarten doch noch Platz, weil alte Freunde von Paul für sie zusammenrückten. Das Gewisper in der Kirche verstummte, kaum dass sie saßen, und gleich darauf erklangen die ersten Töne. Clemens Meisner begann mit Bachs ”Toccata”. Minutenlang lauschte Kassandra der grandiosen Musik, verlor sich in den zugleich weichen wie kraftvollen Klängen der Orgel und ließ dabei selbstvergessen den Altarraum zu ihrer Linken mit den fünf Rosettenfenstern auf sich wirken, die die dunkle Nacht aussperrten und es drinnen gleichzeitig warm und sicher scheinen ließen. Auf dem Altar brannten zwei hohe weiße Kerzen, das Altarbild zeigte die Rettung des sinkenden Petrus, ein Motiv, das ebenso ein Sinnbild war wie die Segelschiffmodelle, die auf der Nordempore direkt über ihnen und der Südempore gegenüber hingen. Seit langer Zeit wurden Kirchen an der Küste mit Votivschiffen als Symbolen der Seefahrt geschmückt. Kassandra war keine Kirchgängerin, aber diese Geste, die die Verbundenheit der Menschen mit ihrer Heimat so deutlich zeigte, rührte sie. Versonnen betrachtete sie das dritte Schiff, einen dreimastigen Klipper ohne Segel, der etwa in der Mitte der Kirche von einem der kunstvoll mit Weinreben und Blättern bemalten Rundbögen herabhing. Er hob sich klar vor dem schwarzen Nachthimmel hinter dem doppelten Spitzbogenfenster ab, sie konnte jedes Detail erkennen, die Flaggen, die kleinen Beiboote und sogar den winzigen Anker. Am Heck prangte in goldener Schrift der Name des Klippers: ”Hoffnung”.
Ihr Blick glitt zu Paul, der die Augen geschlossen hielt und völlig entspannt dasaß. Er schien vergessen zu haben, dass sie nicht nur hier waren, um Werke von Bach, Liszt oder Brahms zu hören. Kassandra wagte nicht, sich zu rühren, weil Paul es bemerken und aus seiner Ruhe gerissen werden könnte. Während sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, wie wenig sie in den letzten Stunden daran gedacht hatte, dass er etwas vor ihr verbarg, sondern nur daran, dass sie gemeinsam dahinterkommen wollten, was mit Sascha geschehen war.

9. Station

Hafen

"Bodden-Tod", Gretas 1. Fall

 

Am Hafen fand ich eine Bank mit Blick auf das Zeesboot, mit dessen Besitzer Matthias vor ein paar Tagen gesprochen hatte. Gerade bestiegen Fahrgäste die »Tante Mine«, und eigentlich hätte mir das hier alles viel zu viel Trubel sein müssen. Uneigentlich kam mir gerade dieser Trubel recht. Mein Laptop fuhr hoch, und kurz darauf öffnete ich mein Mail-Programm. Mir wurde übel, als ich wieder die Worte der Betreffzeilen der fünf ansonsten komplett leeren Mails las und sie zu einem Satz zusammensetzte: Du lebst bei einem Mörder. Für einen Laien wie mich war nirgends ein Absender ersichtlich. Das galt auch für die sechste Mail – die mit dem Anhang, den ich schließlich öffnete, während die »Tante Mine« gerade ablegte.
Das pdf hatte fünf Seiten, die erste bestand aus einem offensichtlich selbst verfassten Text, der mit einem hässlichen Satz begann: »Matthias Röwer konnte gut malen und gut töten.« Obwohl ich etwas Ähnliches hatte kommen sehen, fühlte ich mich unfähig, meinen Blick davon zu lösen. Mir war nicht länger übel. Ich wurde wütend. Glaubte dieser anonyme Mailschreiber, er könne mir mit so was Angst einjagen? Oder beabsichtigte er etwas anderes? Bevor ich weiterlas, scrollte ich auf die nächste Seite, bei der es sich um einen eingescannten Artikel einer Zeitung namens »Ostsee-Blick« handelte, von der ich noch nie gehört hatte. Überschrieben war der Artikel mit der Schlagzeile: »Barnstorfer Atelier Raub der Flammen – Matthias Röwer schwer verletzt«. Ein Brand! Das schockierte mich weit mehr als die Anklage auf Seite eins des Dokuments.
Ich wollte mich schon in den Artikel vertiefen, als ich vorn auf der Hafenstraße ungewöhnliche Betriebsamkeit wahrnahm. Eine ganze Reihe Pkws fuhren in Richtung Barnstorf, dann ein Van und schließlich ein Streifenwagen. Im Geiste hörte ich Kriminaloberkommissar Harms sagen, dass er mit einem Durchsuchungsbeschluss wiederkommen würde. In Windeseile klappte ich mein Notebook zu und hetzte den Wagen hinterher, obwohl ich sie natürlich niemals würde einholen können. Durfte die Polizei ein Haus durchsuchen, wenn der Verdächtige nicht da war? Falls nicht, wäre der augenblickliche Zustand ideal. Aber falls doch, wollte ich ihnen nicht so leicht das Feld überlassen.

10. Station

Grüner Weg, Brunos Haus

"Fischland-Lügen", Kassandras 6. Fall

 

(Anmerkung: Dieses Foto ist bereits einige Jahre alt - die damals noch fast naturbelassene Tür ließ mich an den naturverbundenen Bruno denken, daher wurde das sein Haus.)

 

Das vertraute Quietschen von Brunos Vorgartentor zauberte ein Lächeln auf Kassandras Lippen. Er öffnete ihr gut gelaunt die Tür. »Schön, dass du da bist, Lütting.« Sein zerfurchtes Gesicht hellte sich mit einem kleinen Lachen auf.
Aus dem Wohnzimmer drang nicht nur köstlicher Duft, sondern auch eine äußerst lebhafte, fast hitzige Unterhaltung in die Diele.
»Was ist denn da los?«, fragte Kassandra.
Amüsiert zuckte Bruno mit den Schultern. »Die Diskussion darüber, ob Wustrow einen Golfplatz braucht, schlägt hohe Wellen.«
»Einen Golfplatz? Ist nicht dein Ernst!«
Bruno lachte wieder. »Irgendwas sagt mir, dass du zur Kontra-Fraktion gehörst.«
»Worauf du Gift nehmen kannst.« Sie betrat das Wohnzimmer, wo der Tisch reichlich gedeckt war mit Salaten, Rosmarinkartoffeln, gegrilltem und gedünstetem Fisch. »Entschuldigt meine Verspätung, ich wollte euch nicht unterbrechen. Aber wer kann denn hier einen Golfplatz wollen?«
»Der anspruchsvolle Urlauber, der keine zwanzig Kilometer fahren, sondern bequem vom Bett in Loch 4 fallen möchte«, ließ sich Paul schmunzelnd vernehmen und deutete auf den freien Sofaplatz neben sich.
»Du brauchst das gar nicht so spöttisch zu sagen, Paul.« Jonas spießte ein Stück Kartoffel auf seine Gabel. »Ich für meinen Teil freu mich über jeden Urlauber, der kommt, auch wenn er wegen des Golfplatzes käme. Er kann ja nicht dauernd auf dem Rasen zugange sein, also wird er möglicherweise eine Fahrt auf meiner ›Tante Mine‹ buchen und anschließend meinen ›Fischländereien‹ einen Besuch abstatten und da auch noch mal Geld für das eine oder andere Souvenir lassen.« Jonas' Lächeln entschärfte den leicht verärgerten Tonfall. »Ich liebe Sophie und Ben sehr, aber du glaubst gar nicht, wie viele Haare einem zwei Kinder vom Kopf fressen.«
»Vom dritten gar nicht zu reden«, sagte Marlene rechts von ihm.
Jonas fuhr herum. »Was?«
»War ein Scherz, Schatz.« Marlene grinste und wandte sich an Harald. »Was meinen Sie denn dazu, Herr Barthel? Sie haben sich ja bisher rausgehalten.«
Harald wiegte den Kopf. »Ich möchte mir ungern meine Meinung ohne vernünftige Faktenlage bilden, und bisher gibt es nur Gerüchte.«
»Vielleicht gibt es keine Faktenlage, die aus Bauplänen besteht“, sagte Marlene, „aber Jonas hat ganz recht. Wenn so ein Golfplatz mehr Leute herbringt, umso besser. Wustrow lebt schließlich vom Tourismus.«
»Wustrow hat es jetzt schon schwer genug, für die Urlauber, die derzeit kommen, ausreichend Service und Gastronomie zur Verfügung zu stellen«, sagte Pau ernst und sprach damit ein ständiges Problem an, von dem er als Gemeindevertreter ein Lied singen konnte. »Das funktioniert nur mit entsprechendem Personal, für das wir wiederum das Umfeld schaffen müssen. Wohnraum vor allem. Ein weiteres Hotel dürfte da kontraproduktiv sein.«
»Wieso Hotel?«, fragte Kassandra, hellhörig geworden. »Ich dachte, Golfplatz.«
Paul vertilgte einen Bissen seines Fischsalats, dann lehnte er sich zurück. »Auf dem Weg hierher bin ich Heiko Jordan am Norderfeld begegnet. Er sagte, er überlege nach dem Tod seines Vaters, ob er die Landwirtschaft wirklich übernehmen oder lieber woanders was Neues aufbauen soll. Er träumt von einem Gut in Südfrankreich, und es gibt offenbar für seinen Grund und Boden einen Kaufinteressenten, der gern ein kleines, exklusives Hotel da hinstellen und aus dem Norderfeld einen Golfplatz machen würde. Leider hab ich nicht aus ihm rausgekriegt, wer dieser Interessent sein könnte.«
»Falk Clasen«, sagte Kassandra. Ihre Stimme kam ihr ein wenig zittrig vor, doch niemand sonst schien das zu bemerken.

11. Station

Barnstorf, Hufe IV, Kunstscheune

"Fischland-Mord", Kassandras 1. Fall

 

»Sie meinen, Tina könnte in Josef Kinds Tod verwickelt sein, und ich sollte lieber nicht zu tief graben?“, fragte Kesting. „Sie graben doch selbst. Mir ist die Sache ein gewisses Risiko wert, wie Ihnen offenbar auch. Wollen Sie nun meine Hilfe oder nicht?«
»Sie haben nicht mal gefragt, wie wir zu der Annahme gekommen sind, dass Kind Frau Bodenstedt erpresst hat.« Pauls Augen verengten sich. »Geschweige denn, warum wir Kind überhaupt für einen Erpresser halten.«
Was war in Paul gefahren? Kassandra hatte inständig gehofft, dass Kesting gerade diese Fragen nicht stellte. Wenn er den Katalog zu Gesicht bekäme, würde er schnell den Schluss ziehen, dass Tina Bodenstedt nicht die Einzige war, die sie verdächtigten.
»Wenn Sie bereit sind, mir das anzuvertrauen, kann ich davon ausgehen, dass wir uns einig sind?«, erkundigte sich Kesting.
»Ich habe nicht gesagt, dass wir Ihnen irgendwas anvertrauen. Ich bin nur erstaunt, wie wenig neugierig Sie sind. Sie müssen Tina Bodenstedt sehr hassen, wenn Sie nach jedem Strohhalm greifen, der sie möglicherweise ans Messer liefert.« Pauls Ton war so hart und kalt geworden, dass Kassandra selbst kalt wurde. Sie starrte ihn an. Obwohl er das spüren musste, gab er nichts dergleichen zu erkennen, sondern fixierte nach wie vor Arnold Kesting. »Ich will wissen, warum das so ist. Solange Sie uns über Ihre Motive im Unklaren lassen, werden Sie von uns gar nichts erfahren.«
Es wunderte Kassandra nicht, dass Kesting unter Pauls bohrendem Blick seine lockere Haltung kurzfristig verloren hatte. Aber sein Erstaunen währte kürzer als ihres. Er lächelte schon wieder. »Hass? Sie überschätzen mich, Herr Freese. Meine Motive sind weit weniger imposant. Was nicht heißt, dass ich bereit bin, darüber zu sprechen. Ich habe meine Geheimnisse, Sie haben Ihre. Ich frage ja auch nicht, weshalb Sie diesen Mord aufklären wollen, und das an der Polizei vorbei.« Er schaute sie reihum an. »Wenn es sie gibt, kann ich Ihnen die Informationen beschaffen, die Sie wollen. Im Gegenzug hätte ich gern den Beweis, dass Kind ein Erpresser war.«
»Damit Sie wiederum Frau Bodenstedt mit Josef Kind unter Druck setzen können?« Diesmal war Pauls Ton nicht kalt, sondern ebenso gelassen wie Kestings.
»Sie geben nicht auf, wenn Sie was wissen wollen«, stellte Kesting fest. »Tatsache ist: Wir können uns gegenseitig helfen. Mein Angebot steht, Sie müssen es nur annehmen.«
Kassandra sah Jonas an. Kesting war genauso verdächtig wie die Bodenstedt, andererseits konnten sie ihn besser im Auge behalten, wenn er mit ihnen zusammenarbeitete. Jonas nickte ihr zu, woraufhin beide zu Paul schauten, der aus irgendeinem Grund das Kommando übernommen zu haben schien.   
»Einverstanden«, sagte er langsam.

12. Station

Barnstorf, Hufe III, Matthias' und Gretas Haus

"Bodden-Nebel", Gretas 2. Fall

 

Instinktiv gab ich einen kleinen Aufschrei von mir, riss meine Hand weg, schüttelte angewidert den Käfer ab, ließ dabei die Taschenlampe fallen und stolperte gegen Matthias, der mich festhielt.
»Ist was passiert?«, rief Arvid von oben besorgt.
Ich schaute hoch und sah schon seinen Fuß auf der Leiter.
»Alles in Ordnung.« Den Blick wieder gesenkt fuhr ich fort: »Da war nur ein …« Ich brach ab.
Der Lichtkegel meiner am Boden liegenden Taschenlampe fiel auf etwas, das hinter den alten Matratzen hervorlugte.
»Ein was?«, hörte ich Arvid wie durch Watte fragen. Nur am Rande bekam ich mit, dass er fast neben uns stand.
Jetzt hatte auch Matthias bemerkt, dass etwas nicht stimmte. »Greta?«
»Da ...«, krächzte ich. »Da ist ...«
»Was?«, fragte er alarmiert.
Wortlos deutete ich auf den Fußboden.
Scharf sog Arvid Luft in die Lungen und brachte genauso wenig wie ich fertig, etwas zu sagen.
»Zur Hölle noch mal, könnte jemand von euch freundlicherweise den Mund aufmachen?«, verlangte Matthias, für den es trotz des Taschenlampenstrahls viel zu düster war, um etwas zu erkennen.
»Gleich«, sagte Arvid. »Wir müssen uns das erst richtig ansehen.« Und zu mir gewandt: »Hilf mir mal, die ist reichlich sperrig.« Er ächzte verhalten, während wir gemeinsam die Matratze zur Seite schoben.
Mein Blick glitt zurück zu den löchrigen Socken, aus denen vorn Knöchelchen hervorschauten und am oberen Ende Gebeine herausragten. Etwas klebte daran. Reste eingetrockneten Fleisches? Es war schwer zu erkennen, und ich war nicht wild darauf, das näher in Augenschein zu nehmen.
»Was? Ist? Da?«, fragte Matthias.
»Der untere Teil einer skelettierten Leiche«, übernahm es Arvid zu antworten. »Etwa ab Oberschenkel abwärts.«
Matthias musste das sacken lassen, bevor er herausbrachte: »Na großartig. Das hatten wir ja noch nie.«
Sein Sarkasmus konnte die Beunruhigung in seiner Stimme nicht überdecken. Ich spürte, dass er sich anspannte, als wolle er sich gegen etwas wappnen. So emotionslos, wie ich ihn seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört hatte, fragte er: »Ist noch mehr von der Leiche vorhanden?“
Ich hatte es bisher in meinem Leben noch nicht so hautnah mit einer Leiche zu tun bekommen und wollte auch gar nicht mehr sehen. Andererseits hatte ich das entschiedene Gefühl, dem hier auf den Grund gehen zu müssen. Also bugsierten wir die Matratzen an die andere Wand.
»Der Rumpf steckt in Männerunterwäsche – Unterhose und Unterhemd, die wohl vor langer Zeit mal weiß waren. Jetzt sind sie fadenscheinig und zerschlissen«, beschrieb ich. „An den Händen steckt leider kein Ehering, wodurch wie den Mann identifzieren könnten. Am Schädel hängen noch Haare und hier und da ein winziges Stück Haut. Was von der Nase übrig ist, sieht unappetitlich aus. Im Kiefer sehe ich keine Zahnlücken. Entweder war er noch jung oder er hatte einen guten Zahnarzt. «
Ich erhob mich wieder, während Arvid das Skelett noch immer musterte und unsere Erkenntnisse zusammenfasste. »Männlich, groß, mindestens eins achtzig, wie er so da liegt, vermutlich gesunde Zähne, daher vermutlich jung. Haben wir hier den rätselhaften vierten Engländer vor uns? Jack?«

13. Station

Hafenstraße, Niklas Thiels Haus

"Fischland-Feuer", Kassandras 3. Fall

 

»Es brennt bei Niklas«, sagte Kassandra erschrocken. Ein einziges Mal nur war sie in seinem Haus gewesen, das er allein bewohnte. Viele Jahre lang hatte es heruntergekommen auf einem großen, wild wuchernden Grundstück gestanden und darauf gewartet, dass jemand wie Niklas kam und daraus ein Schmuckstück machte. Es war das letzte Haus der Hafenstraße, danach begann der Barnstorfer Weg, der in den Ortsteil Barnstorf führte.
Man musste es wohl Glück im Unglück nennen, dass Niklas' Haus mit den einst hübschen hellblau bemalten Türen und Fensterläden relativ für sich stand. Es war tagelang trocken gewesen, kein Tropfen Regen war gefallen, was es dem Feuer, das lodernd den nachtschwarzen Himmel erhellte, noch leichter machte, sich durch alles hindurchzufressen. Es hatte bereits auf Bäume und Sträucher auf dem Vorplatz übergriffen, und die Löschfahrzeuge verspritzen Tausende von Litern Wasser auf Haus und Grundstück, um der Flammen Herr zu werden.
Zwischen all dem brennenden Chaos sah Kassandra, dass Feuerwehrmänner mit Atemschutzmasken einen Körper aus dem Haus trugen, um den sich die Rettungskräfte sofort kümmerten. War das Niklas? Sie konnte nur hoffen, dass er nicht tot geborgen, sondern lebend gerettet worden war. Kassandras Blick wanderte zu dem Rettungswagen, in dem Niklas jetzt lag. Die Türen schlossen sich hinter den Sanitätern, das Blaulicht warf gespenstische Schatten in die Umgebung. Die ersten Meter fuhr der Wagen langsam, dann heulte das Martinshorn auf, und auf der Hafenstraße nahm er schnell an Tempo zu. Immerhin hieß das wohl, dass Niklas noch lebte.
Kassandra merkte erst jetzt, dass sie die Luft angehalten hatte. Als sie nach Atem rang, fühlte sich die Luft in ihren Lungen heiß an – heiß und stickig und knisternd wie das Feuer, wie scheinbar alles um sie herum. Die Flammen schossen jetzt von überall aus dem Haus – aus dem großen Loch, vor dem sich einmal eine schwere zweiflügelige Eingangstür befunden hatte, aus unzähligen Fenstern und dem Dach. In diesem Moment barst die Scheibe einer Balkontür – ein seltsam stilles Schauspiel, das Glas zersplitterte und fiel unter dem Zischen und Wummern des Feuers gänzlich lautlos zu Boden -, und die Flammen schossen nun auch aus dieser Wunde, die sie ins Haus gerissen hatten.
Noch niemals war Kassandra Zeugin eines solchen Unglücks gewesen, niemals hatte sie meterhohe Flammen aus einem Gebäude schlagen sehen und flirrende Hitze auf ihrem Gesicht gespürt. Sie meinte sogar, ein winziges Brennen auf ihrer Wange wahrzunehmen, als hätte ein Funke sich bis hierher verirrt, obwohl der Wind in die entgegensetzte Richtung wehte. Sie wischte den vermeintlichen Funken fort und registrierte zu ihrer Überraschung, dass ihre Wange feucht war. Sie weinte, ohne dass sie es bemerkt hatte, weinte vor Entsetzen ob dieser Sinfonie der Zerstörung.

14. Station

Ernst-Thälmann-Straße, Bücherstube

"Bodden-Tod", Gretas 1. Fall

 

Eine Viertelstunde, bevor die »Bücherstube« schloss, trat ich durch die Tür. Hinter der Kasse stand eine zierliche Frau und unterhielt sich gestenreich mit einem großen grauhaarigen Mann, der sich beim Klang der Glocke über der Tür umdrehte. Er hatte eine lange Nase und ein ausgeprägtes Grübchen am Kinn, aber bevor ich dazu kam, verlegen wegzusehen, weil ich ihn angestarrt hatte, fragte mich die Buchhändlerin, ob sie mir helfen könne.
»Danke, ich würde mich gern erst mal umsehen«, sagte ich und steuerte auf das Regal linkerhand zu, auf dem ich Regionalliteratur entdeckt hatte. Während ich nach dem ersten Buch griff, eines über den Friedhof, das ich bestimmt gut für meine Recherchen brauchen konnte, nahmen der Mann und die Buchhändlerin ihr Gespräch wieder auf.
»Ich finde ja, man sollte sie warnen«, sagte sie. »Stell dir vor, es passiert wieder was. Dann ist es zu spät.«
»Und was sollte wohl passieren?«, fragte er ein kleines bisschen ungeduldig. »Wenn auch nur ein Bruchteil stimmen würde von dem, was ihr euch damals zusammengereimt habt, würde er das kaum wiederholen.«
»Weiß man nicht, und ich bin nicht die Einzige, die so denkt«, murmelte die Buchhändlerin.
Ich riskierte einen Blick über den Rand des Buchs hinweg, das ich zwar durchgeblättert, von dem ich aber trotzdem erstaunlich wenig wahrgenommen hatte. Den Mann sah ich nur von hinten, aber es war deutlich zu erkennen, dass er tief Luft holte. Er schüttelte den Kopf.
»Ihr habt alle zu viel Phantasie.«
Für einen Moment dachte ich, er redete mit mir – schließlich war mir gerade dasselbe auf dem Hohen Ufer durch den Kopf gegangen. Das war so unheimlich, dass ich, so dumm es auch sein mochte, spontan das Buch über den Friedhof weglegte, damit mir daraus keine Geister entgegenkamen, und ohne hinzusehen ein anderes nahm.
Als fände die Buchhändlerin das genauso albern wie ich, lachte sie auf. »Das musst du gerade sagen, Paul.«
Er fiel in ihr Lachen ein. »Touché. Also, wir sind dann weg. Bin gespannt auf diese Insel, die Kay Dietrich uns zeigen will. Guernsey muss phantastisch sein nach allem, was er erzählt hat. Heinz kümmert sich um die Pension.«
»Wer hätte das vor ein paar Jahren noch gedacht!«, meinte die Buchhändlerin schmunzelnd.
Der Mann namens Paul lachte wieder. Dann hob er grüßend die Hand. Als er sich umwandte, fiel sein Blick auf mich und das Buch, das ich in den Händen hielt. Ganz kurz leuchtete sein Gesicht auf, dann nickte er mir zu und öffnete unter dem Läuten der Glocke die Tür.

Bei der Bücherstube endet der Spaziergang.

Mir hat's Spaß gemacht, die Tour von letztem September auf diese Weise noch mal zu erleben.

 

Habt vielen Dank, dass Ihr dabei wart!

 

Demnächst geht's zum 2. Spaziergang, dann Richtung Mühle.